Das Gesetz der Freiheit

von Mstr. Menthu


Tue was Du willst ist das ganze Gesetz.

1.

Seit seiner Niederschrift im Jahre 1904 vor nunmehr fast einhundert Jahren in Kairo, hat das Buch des Gesetzes (Liber Al vel Legis) und das in ihm begründete Gesetz von Thelema immer wieder neue Perzeptionen erlebt, was letztendlich zu der Formung eines weiten Feldes (Kontinuum) von Auslegungen und Kommentaren führte, deren einziger verbindender Punkt das gewählte Etikett THELEMA ist. Da kein verbindliches Dogma zum Gesetz von Thelema existiert, obliegt es jedem einzelnen, seinen Sinn in diesem Gesetz zu finden, das sich ja auch durchaus berechtigt (mit einem ironischen Paradoxon) „das Gesetz der Freiheit“ nennt. Diese Freiheit wird selbstverständlich hervorragend genutzt – vor allem zur Erstellung eigener Dogmen. Das Gesetz von Thelema wird je nach Bedarf mit verschiedenen Konnotationen belegt – seinen Kritikern ist es eine Aufforderung zur Anarchie und/oder das esoterische Äquivalent faschistischer Ideologie, seinen Anhängern ist es Religion, Magisches Konzept oder spirituelle Rechtfertigung sozialinkompatiblen Verhaltens.

Ein weiterer Punkt, die der Realisierung von Thelema im Wege steht, ist die Konfusion in der Wertung des Phänomens, das sich um den offiziellen Verkünder des Gesetzes und die Schrift, in der er dies niederlegte, entwickelt hat. Wenn man in der Einschätzung feststeht, dass das Kernkonzept des Liber Al – das Gesetz schlechthin – jenes „Tue was Du willst!“ ist, muß die Beschäftigung und kultische Bearbeitung aller anderen Facetten dieser Schrift eher eine Ablenkung, Spielerei und letztendlich ein Ärgernis sein.

In dieser Form der Perzeption des Gesetzes von Thelema gewinnen Seitenaspekte an Gewicht und verzerren die Wahr-nehmung: der neoägyptische Religionsjargon, der halb aus dem unvollständigen Wissen der Ägyptologie des 19. Jahrhunderts und den esoterischen Lehren der theosophischen Rosenkreuzer des „Golden Dawn“ entlehnt ist; die stark sexualisierte rebellische Unternote in vielen Versen des Liber Al, die direkt auf Mstr. Therions Rebellion gegen die Doppelmoral seiner Zeit zurückführbar ist und viele andere Aspekte. Dies sind in meinen Augen Seitenaspekte, durchaus von Interesse, aber nicht von der gleichen Wichtigkeit wie die Kernaussage „Tue was Du willst!“. (Die Obsession des Mstr. Therion mit diesen Themen kann durchaus ein deutliches Beispiel für jemanden sein, der dem Kernsatz des Gesetzes „Tue was Du willst“ keine oder nur ungenügende Folge geleistet hat.) Dennoch scheint eine kultische Bearbeitung dieser Seitenaspekte in vielen Traditionen innerhalb des thelemischen Kontinuums als wichtig erachtet, oft sogar wichtiger als die Beschäftigung mit dem Gesetz selbst. Wir finden hier das arttypische Verhalten eines omnivoren, in Rudeln lebenden Primaten, der sich eher nach Massenbewegungen ausrichtet und stets die leichtere (auch geistige) Nahrung wählt, und sei es auch offensichtliches Aas. Dieses Phänomen soll im Folgenden durchaus wertend der „Kult von Thelema“ genannt werden.

Kult, nicht Kultur! Dieser Kult hat sich um die Person des Mstr. Therion als „Propheten“ des Gesetzes ebenso wie um die Schrift des Liber Al als „Bibel“ dieses Kultes entwickelt. Wie bereits aus der Terminologie dieses Kultes ersichtlich, stellt er keine notwendige Verbesserung oder Erhöhung im Sinne einer geistesgeschichtlichen Evolution dar, sondern ist eine sublime Art des Etikettenschwindels und gleichzeitig die hintersinnigste Art und Weise, sich der Realisierung des Gesetzes zu entziehen. Denn der Anspruch des Gesetzes von Thelema ist in meinen Augen kein kultischer, und auch nicht durch kultische Mittel zu realisieren. Doch dazu später mehr.

2.

Im Buch des Gesetzes selbst wird „Tue was Du willst“ („Do what Thou wilt“ Al I:40) als „secret fourfold word“ beschrieben, „the blasphemy against all gods of men.“ (Al III:49). In diesem vierfältigen Wort (Ausspruch) gilt es die Blasphemie zu entdecken, und wenn „alle Götter der Menschen“ von dieser betroffen werden, soll dies auch außerhalb des unmittelbar religiösen Kontextes auf alle Konzeptionen des Menschen angewandt werden, die ein ungesundes Eigenleben und eine Scheinexistenz außerhalb des individuellen Bewußtseins entwickeln können.

In diesem vierfältigen Wort ist sehr viel Aufmerksamkeit immer auf das Wort willst/wilt als (archaische) Beugung des Wortes „wollen“ gelenkt worden – das Konzept des Willens wurde betont, was THELEMA im Griechischen bedeutet. Eine „Weißwaschung“ des Anspruches des Gesetzes kann dieses Konzept sogar auf vorhergehende Autoren wie Rabelais und indirekt den Kirchenvater Augustinus zurückführen, aber eine solche Konstruktion von hypothetischen Vorgängern des Mstr. Therion dient im Endeffekt nur einer vulgärgesellschaftlichen Akzeptanz eines in einer vulgären Gesellschaft unakzeptablen Konzeptes. (Zudem unterschlägt man die eher gefährlichen historischen Konnotationen von THELEMA als Motto des Hellfire Club der Medmenham Abbey sowie die Benutzung desselben Begriffs durch den Abenteurer und Orientalisten Sir Richard Burton, der übrigens zu den Jugendhelden des Mstr. Therion gehörte.

Das Konzept des Willens als bestimmenden Faktor innerhalb der Ausrichtung nach dem Gesetz von Thelema ist von unmittelbarer Wichtigkeit – das Gesetz von Thelema und sein „vierfältiges Wort“ jedoch allein aus dieser Perspektive erklären zu wollen, vereinfacht es zu sehr und nimmt ihm viel von seiner Schärfe. Wäre das Konzept des Willens alleine bestimmend, könnte man genauso gut den Überlegungen der voluntaristischen (thelemistischen) Philosophie folgen, verbliebe letztendlich in einer passiven, reflektierenden Position. So wichtig Wille auch ist, er ist kein a priori existierendes Phänomen, sondern muß aktiv erzeugt und formuliert werden.

Es ist das „Tue was hier in Betracht gezogen werden muß. „Do“ verweist auf eine aktive Position, und es kann nicht vermessen sein, diesem „Tue auch eine besonders wichtige Stellung in dem vierfältigen Wort zuzuweisen, nicht nur, weil es an erster Stelle steht – „willst“ erst an letzter. Jedoch, die ersten sollen die letzten sein: „was Du willst“ ist im Vergleich zum „Tue unbestimmt – es muß erst bestimmt werden. „Tue übergeht alle anderen Positionen – es geht über diese hinweg und weit hinaus – dies erfolgt aber natürlich aus der Bestimmung der anderen Positionen.

Ich möchte das „Tue hier in Vergleich setzen zu einer anderen Konzeption, die den Mstr. Therion beschäftigte und die er in seiner Sichtweise erweitert und aus einem eher statischen Zustand herausgelöst hat. In einem eher klassischen Jargon werden die vier Fähigkeiten Wissen, Wollen, Wagen und Schweigen als die „Vier Waffen der Sphinx“ beschrieben und als Kardinaltugenden eines Magiers beschrieben. Die sowohl das Enden im Schweigen durchaus auch auf ein eher mystisches Produkt dieser Reihe hindeuten mag.

Mstr. Therion hat dieser Viererreihe als Fünftes die Tugend des „Gehen“ hinzugefügt – im Symbolismus der vier Elemente entspricht dies der Quintessenz oder dem Element des Geistes, die „Flügel“ mit dem die Elementarchimäre der Sphinx sich erheben kann. Es ist dieses „Gehen“, das den zweidimensionalen Kreis der Viererreihe überschreitet und eine dreidimensionale, gerichtete Struktur erschafft. Oder, in anderen Worten, den Prozeß erst wirklich in Bewegung setzt.

Wenn ich dieses „Gehen“ mit dem „Tue im vierfältigen Wort in Beziehung setze, stelle ich gleichzeitig auch eine Verbindung des Gesetzes von Thelema mit dem Prinzip des Tao her, als dessen westlichen Äquivalent ich Thelema durchaus gerne betrachten möchte. Während im Taoismus das eher passive „Fließen“ von Wichtigkeit ist, ist es im Gesetz von Thelema das eher aktive „Tun“. Für beide jedoch gilt, dass Stillstand Rückschritt bedeutet.

3.

Dies alles klingt interessant und aufregend, vermag aber nicht zu befriedigen. Es verweist auf Aktion anstelle von Reaktion, aber soll daraus ein blinder Aktionismus folgen? Nein! Es ist das Herz des vierfältigen Wortes, die Mitte, die noch nicht betrachtet wurde, und in der die wahre Forderung des Gesetzes von Thelema verborgen liegt. Denn das „Tue ist die Folge der Formulierung eines Willen. Dieser aber ist kein beliebiger, sondern nur ein einzig möglicher. „was Du willst“/“what thou wilt“ mag auf den ersten Blick eher unbedeutend klingen, aber hier ist das immanente „Non Serviam“ des Gesetzes von Thelema festgeschrieben. Zu tun, was „Du willst“ setzt nämlich voraus, dass man erst einmal herausfindet was „Ich“ will. Man muß seine eigene Ausrichtung finden – sein „Eigentum“, d.h. das was einem selbst – und nur sich selbst – zu eigen ist. Dies ist nicht nur eine Forderung nach einer schonungslosen – mitleidlosen – Selbsterkenntnis, sondern vor allem auch nach einer Deprogrammierung des Ich von allen ererbten und erlernten Präkonzeptionen – kreative Ikonoklasie! Diese Präkonzeptionen des „Ich“ sind nichts anderes als die Programme, die jeder Mensch durch seine Interaktion mit anderen Menschen, innerhalb der Gesellschaft oder anderen sozialen Organismen, erlernt und sich einprägt. Dies ist auch der Aspekt des Gesetzes von Thelema, der dem Konservatismus gefährlich erscheinen muß. Dies ist die „Blasphemie“ gegen alle „Götter der Menschen“!

Es kann sicherlich kein Problem für den Status Quo sein, wenn ein Individuum nur seinen Willen tut, wenn er die sozialen Programmierungen soweit verinnerlicht hat, dass er nur Dinge will, die innerhalb dieser vorprogrammierten Struktur erlaubt und gutgeheißen werden. Fängt er aber an, die Programmierung aufzubrechen, und aus dem Kollektiven „Wir“ ins Individuelle „Ich“ zu treten, kann es keine effektive (interne) Kontrolle mehr über ihn geben. Dies ist der tatsächlich anarchische Gesichtspunkt des Gesetzes von Thelema, wen man sich von den negativen Konnotationen dieses Begriffes löst und sich rückversichert, dass „Anarchie“ originär nur „Frei von Herrschaft“ bedeutet und nichts mit Chaos zu tun hat. Es ist dieses „von Herrschaft freie“, also selbstbestimmte Ich, nach dem das Gesetz von Thelema als erstes verlangt. Jede Form von Fremdbestimmung und Beschränkung steht dem Anspruch des Gesetzes von Thelema diametral entgegen. „The word of Sin is Restriction.“ (Al I:41) „Let it be that state of manyhood bound and loathing. So with thy all; thou hast no right but to do thy will.“ (Al I:42) „Do that, and no other shall say nay.“ (Al I:43)

Dies also ist das Herz des vierfältigen Wortes: eine Forderung und Ver-ordnung der Kristallisation des „Ich“, die Befreiung von Fremdbestimmung und sozialen Programmierungen. Alles, was von diesem Kernkonzept ablenken könnte oder es versucht, ist damit klar abzulehnen. Dies schließt paradoxerweise auch den „Kult von Thelema“ ein.

„There is no law beyond Do what thou wilt“ (Al III:60), heißt es, und dies steht in klarem Widerspruch zu jeder Form von Mystik und Religion, die versucht, das Kristallisierende Ich wieder in neue Programmierungen einzufangen und anstelle der Individuation eine Anti- oder Parallelsozialisation vorzunehmen. Die Realisierung eines „Kultes von Thelema“ ist wahrscheinlich die sublimste Art und Weise, sich der Forderung des Gesetzes, sein selbst bestimmtes „Ich“ zu finden, zu entziehen. In diesem Sinne ist die Formulierung und der Gebrauch des Gesetzes von Thelema, wie er in der Fraternitas Saturni gebräuchlich ist, schärfer und effektiver selbst als die im Buch des Gesetzes niedergeschriebene. Das Gesetz IST, es wird nicht.

„Liebe ist das Gesetz, Liebe unter Willen. Mitleidlose Liebe“, heißt es, wobei der erste Teil dieses Diktums Liber Al I:57 entspricht, der zweite jedoch originär ist. (Man kann zwar auf Al III:18 verweisen, „Mitleid lasset beiseite“, aber dies ist nicht identisch, unterstreicht jedoch die Korrektheit des Diktums.) Es ist kein schwammiges Ideal, das sich vielleicht einmal von selbst realisieren wird, es ist eine Fundamentalforderung an jeden Menschen. Deshalb benutzt die Fraternitas Saturni den Indikativ („Tue was Du willst ist das ganze Gesetz“), und nicht den Konjunktiv („Tue was Du willst soll sein das ganze Gesetz“ Al I:40),“ in seinem Logengesetz, in bewusster Abkehr von der thelemischen „Bibel“, so wie ihre Form des Gesetzes der Forderung des Gesetzes treuer ist als eine sklavische Nachahmung von fremder Hand festgeschriebener Form.

Diese bewusste Formulierung aus der Verweigerung der Vereinnahmung durch die „Übervaterfigur“ des „Propheten“ Therion stellt in meinen Augen auch eine wohltuende und vor allem konsequentere Lösung von der Fremdbestimmung auch von infektiösen Ideen dar. Das Gesetz von Thelema – das vierfältige Wort – stellt somit auch das Fundament der magischen Loge dar, ohne zwingenderweise „Thelemiten“ d.h. Anhänger des Kultes von Thelema erzeugen zu müssen. Die Forderung des Gesetzes von Thelema ist auf bestimmte Weise identisch sowohl mit dem delphischen Imperativ des Gnothi seauton ebenso wie mit dem Non Serviam einer späteren Philosophie – es ist die Vorbedingung der Erzeugung eines wahren homo sapiens, der der Vorläufer eines homo superior ist, der geistigen und physischen Mutation des Menschen, die notwendig ist, um das geistige und soziale Erbe des omnivoren, in Rudeln lebenden Primaten zu transzendieren.

Liebe ist das Gesetz, Liebe unter Willen. Mitleidlose Liebe.


Nachtrag: Mstr. Therion hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, jedes Schriftstück mit dem Gesetz zu beginnen und zu beenden. Gewohnheit und eine Liebe zur zahlenmagischen Spielerei verleitete ihn schon bald dazu, das Gesetz auf die Auflistung der Schlüsselwörter „Liebe“ und „Willen“ in ihrer gematrischen Form 93 abzukürzen – einmal 93 als Gruß und als 93 93/93 als Verabschiedung. Er erhielt somit ein vierfaches 93 rund um seine Schriften. In seiner zahlenmagischen Gedankenwelt stand die Vier für joviale Stabilität, etwas was in meinen Augen mit der Konzeption und der Aufgabe, die das Gesetz festschreibt, fast unvereinbar ist. In der Form, wie die Fraternitas Saturni das Gesetz gebraucht, müsste man fünf mal die magische 93 niederschreiben – die Zahl des Pentagramms, und auch des „Gehens“, wie vorhergehend erwähnt.

Dies Gesetz ist in Bewegung, es fließt, es brennt wie eine Flamme. Oder ein Schwert in der Hand dessen, der es weise zu nutzen weiß.

Aufsatz von Mstr. MENTHU für den Gradus Mercurii, aus dem Archiv der Großloge.

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